Rubrik: Text und Schriftensammlung

Der Graf v. Rieneck – Einer der vier Burggrafen des hl. Römischen Reiches

von Otto Schecher, Lohrer Zeitung 11.12.1959

Mitte Oktober 1958 wurden im Fürstlich Ysenburgisch-Büdingischen Archiv des reizvollen oberhessischen Städtchens Büdingen im Auftrage der Stadt Lohr Archivalien der ehemaligen Gräflich-Rieneckischen Kanzlei gesichtet und fotokopiert. Aus der Vielzahl der dort vorgefundenen und in Kopien nach Lohr verbrachten Urkunden und Akten (ca. 800) verdient eines dieser Schriftzeugnisse im Jahre des 400. Todestages des letzten rieneckischen Grafen besondere. ja hervorragende Beachtung, dessen Entdeckung durch den Verfasser für weitere Forschungen zur Geschichte der Grafen und der Grafschaft von im Augenblick noch nicht übersehbarer Bedeutung sein dürfte (wobei genaue Auswertungen und schlüssige Folgerungen unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Gesamtproblematik hierzu vorbehalten bleiben mögen).

Nach den Irrungen und Wirrungen des Bauernkrieges 1524 bis 1525, dessen unmittelbaren Auswirkungen auch unsere engste Heimat zu spüren bekommen hatte (u. a. Teilnahme der Lohrer am Aufstand und daraufhin erfolgter 10jähriger Stadtrechtsentzug. Zerstörung und Auflösung des Klosters Schönrain), veranlasste Bischof Konrad von Würzburg (1519 bis 1540; aus dem Haus Thüngen) in seiner Funktion als Herzog und damit oberster Gerichtsherr von Franken eine Wiedergutmachung der durch die Aufständischen angerichteten Schäden in seinem Territorium. Unter Außerachtlassung der reichspolitischen und reichsständischen Sonderstellung ihrer Inhaber, dehnte Konrad seine Verordnung auch auf die dem fränkischen Reichskreis zugehörende Grafschaft Rieneck aus, stieß aber auf den entschiedenen Widerstand des 22jährigen, regierenden Grafen Philipp von Rieneck, mit dem 1559 der letzte Spross seiner Dynastie ins Grab sinken sollte.

Um seiner Weigerung gegen die Erhebung von Strafleistungen in seiner Herrschaft nachhaltige Untermauerung zu geben, wandte sich Philipp gleichzeitig an Kaiser und Reich. Kaiser Karl V. übermittelte daraufhin am 4. Dezember 1527 aus Speyer seinem ..Ehrwürdigen Konradten. Bischof zu Würzburg, Unserem Fürsten…” ein Mandat. dessen Auffindung im vorerwähnten Archiv gelang und dessen Inhalt. vornehmlich aber Rechtsbegründung in Bezug auf den rieneckischen Grafen im Wortlaut höchster Reichsinstanz den Rahmen der bloßen Heimatgeschichte weit überschreitet und bereits das Interesse der internationalen Forschung gefunden hat, nachdem dem Verfasser anlässlich einer Studienfahrt Ende Juli 1959 Gelegenheit gegeben war, am Archives Nationales in Paris und an der ‘Universität Brüssel seine Entdeckung und die sich daraus ergebende Problematik dortigen Wissenschaftlern anzuzeigen und mit diesen zu erörtern.

Die Urkunde bringt (in gekürzter, moderner Lesart):
.. Unserem Kaiserlichen Kammergericht hat der edle und des Reiches lieber Getreuer, Philipp, Graf von Rieneck vorgebracht, dass Deine Andacht (Anrede für den Bischof!) sich auf einen Vertrag mit einigen Grafen, Herren und Reichsrittern zur Wiedergutmachung der Schäden, die ihnen in dem vergangenen Bauernaufruhr zugefügt worden sind. verglichen und geeinigt haben. Obwohl Graf Philipp nur uns und dem Heiligen Reich unmittelbar unterstellt und EINER VON DEN VIER BURGGRAFEN ‘DES HEILIGEN RÖMISCHEN REICHES und nicht, ein Graf des Hochstifts Würzburg ist, soll doch Deine Andacht am 29. November vergangenen Jahres (1526) geschrieben und an ihn das Ansinnen gerichtet haben. alle seine Untertanen und Hintersassen anzuhalten, daß jeder fünf Gulden auf Grund vorgenannten Vertrages zu entrichten habe. Sollte dieses nicht geschehen, so hätte sich Graf Philipp Deiner Andacht und den Vertragspartnern zu stellen, wie ihm auch am 1.1. September eine Abschrift des Vertrages von Würzburg überschickt und durch einen Deiner Boten in seiner Stadt Lohr angeschlagen wurde. Deshalb bemühte sich Graf Philipp um dieses Mandat zur Rechtshilfe gegen Deine Andacht und die Vertragspartner. und erbat gegen Euch dieses Mandat in den Orten Würzburg, Rothenburg o. T.. Ansbach. Schleusingen. Bischofsheim. Mergentheim. Wertheim. Karlstadt. Lauda. Schweinfurt. Kitzingen. Haßfurt, Rothenfels und Gemünden als offenes Edikt anschlagen und verkünden zu lassen. So gebieten Wir Deiner Andacht und den anderen Genannten auf Grund Römisch Kaiserlicher Macht bei Androhung der Strafe in Unserem und des Reiches Landfriedens Namen, dass Ihr gegen Graf Philipp, seiner Grafschaft Untertanen, Angehörigen und Schutzbefohlenen nichts unternehmt, handelt oder tut, oder durch andere zu tun befehlt, bewilligt oder gestattet und Euch darin nicht ungehorsam erzeigt, damit nicht notwendig werde, gegen Euch zu handeln. Dadurch verfahrt Ihr nach Unserer ernstlichen Meinung. Wir wollen auch, dass dieses Unser Mandat an den oben bestimmten Orten als offenes Edikt angeschlagen und verkündet werde. Wisset Euch danach zu richten.”
(Folgt Schlussprotokoll mit Datierung und Ausstellungsort sowie Rekognitionszeichen).

Weder in den modernen Forschungen zur Verfassungs- und Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Staates, noch in den Forschungen zur Landesgeschichte oder Untersuchungen zur Heimatgeschichte (Höfling, Stein, Hönlein, Weigand u. a.) war das eminent wichtige – in einer Geschichte des rieneckischen Grafenhauses noch nicht absehbar weiterführende – Faktum eines reichsständischen Vier-Systems reichsunmittelbarer Burggrafen einerseits, einer Zugehörigkeit der Grafen von Rieneck zur „Reichsburggrafenordnung” andererseits bekannt. Die Fragen nach Begriffsinhalt, Amtsherkunft, Amtskontinuität, nach den Standesgenossen der Lohrer Grafen (im Spätmittelalter wohl Nürnberg. Magdeburg und Münster) nach der realpolitischen Grundlage und Auswirkung ihrer damit bewiesenen herausgehobenen Stellung, nach Herrschaftsbildung und Herrschaftsrechten, nach Einflüssen auf historische Grenzgebiete (kultur- und kunstgeschichtlicher Art) und nicht zuletzt nach dem Städtecharakter Lohrs vom Ursprung bis zum Abschluss seiner mittelalterlichen Ausformung – um nur einige zu nennen – erscheinen dadurch unter völlig veränderter Sicht.
An neuen Ansatzpunkten dürfte es nicht mangeln. Doch soviel darf schon jetzt festgehalten und als sicher angenommen werden: die bislang in der allgemeinen historischen Forschung sowie Literatur still angenommene. öfters aber auch direkt vertretene ..Bedeutungslosigkeit” der Grafen von Rieneck im Mittelalter und im Vergleich zu anderen mittelalterlichen Adelsgeschlechtern wird durch diesen Urkundenfund zumindest für das 15./16. Jahrhundert erschüttert. Und es sollte verwundern, wenn ihrer wehrhaften Residenz am Main. Lohr, nicht wenigstens ein Schimmer der Würde ihrer „Burggrafen des Heiligen Römischen Reiches zuteil geworden wäre.