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Schönrainer Liederhandschrift

Kreisanzeiger, 16.Juli 2005

Historiker bekämpfen das “Verscherbeln” von Kulturgut

Auch das Fürstenhaus Ysenburg-Büdingen gibt einzigartige Dokumente in den freien Handel

Kurt Hoeppe REGION. Die politische Diskussion um das Erbacher Schloss hat den Umgang mit Kulturgut in Adelsbesitz wieder in öffentliches Interesse gerückt. Dass auch hierzulande hinter bröckligem Schlossgemäuer teils unersetzliche Kostbarkeiten schlummern, ist meist nur Fachleuten bekannt. Aber während die Erbacher Schlossherren sich freuen dürfen über den Ankauf ihres Besitzes durch das Land Hessen, müssen klamme Provinzfürsten sehen, wie sie klarkommen. Wolfgang Ernst zu Ysenburg-Büdingen etwa sieht sich seit Jahren dazu gezwungen, immer mehr Teile seines Besitzes zu veräußern. Immobilien wie die Ronneburg oder Schloss Gettenbach oder Unternehmen wie Fürstliche Keramik und Brauerei machen ebenso Schlagzeilen wie die Vermietung von Renn- und Offroadstrecken im Büdinger Wald. Doch die wirklichen Geschäfte vollziehen sich im Stillen, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Da raschelt es nur leise… “Das Fürstenhaus Ysenburg-Büdingen verscherbelt Kulturgut.” Das behauptet der Historiker Dr. Klaus Graf (Archiv der Hochschule Aachen; Lehrauftrag Uni Freiburg), der seit Jahren über gefährdetes Kulturgut in Adelssammlungen recherchiert. Auf seiner eigenen Internetseite ( HTTP://ARCHIV.TWODAY.NET ) informiert er darüber, dass das Büdinger Fürstenhaus in den letzten Jahren unbemerkt von der Öffentlichkeit wertvolles Kulturgut in den privaten Handel gegeben hat: Neben einer Münzsammlung mit seltenen Stücken, einer Handschrift der Werke des Humanisten Sebastian Brant (1457-1521) und den “Büdinger Fragmenten (1384-1388) auch einzigartige Dokumente wie Teile der um 1330 entstandenen “Schönrainer Liederhandschrift” und die Passionsgeschichte des Johannes von Zazenhausen (1464). “Ein solcher klandestiner (heimlicher) Ausverkauf mag zwar legal sein, ist aber kulturpolitisch alles andere als wünschenswert,” so Graf, der sowohl das Archiv als auch die Bibliothek des Fürstenhauses zu Ysenburg und Büdingen zu den “kulturellen Schätzen in hessischem Adelsbesitz” rechnet. Tatsächlich ist es gerade die Fülle des Ysenburgischen Kulturbesitzes, die sowohl Erfassung und Sicherung des Bestandes als auch die Bewertung der jetzt öffentlich kritisierten Verkäufe erschwert. So wurde bereits zwischen 1920 und 1940 ein Teil der Bestände der heute nicht mehr existenten Büdinger Gymnasialbibliothek verkauft. Während einige wenige Stücke in das Fürstliche Ysenburgische Gesamtarchiv und das Stadtarchiv wanderten, gingen die Reste in den 60er Jahren an einen holländischen Antiquar. So wundert es nicht, dass viele wertvolle Stücke in den um die Jahrhundertwende angelegten Bestandslisten mittlerweile mit den Zusatzvermerken “Verbleib unbekannt” geführt werden (siehe auch Bericht unten). Dabei unterliegt das bekannte Ysenburgische Archiv mit seinen 6 000 Urkunden der Jahre 947 bis 1908, 1 000 lfm Akten- und Amtsbüchern sowie Münzsammlung nicht nur der alten Rechtsform des Fideikommis (siehe Stichwort), sondern auch dem “Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung”. In der Fürstlichen Bibliothek dagegen darf “gewildert” werden. Die Meinungen darüber, welche Dokumente, Bücher und Sammlungen wo hingehören, gehen angesichts der erstaunlichen Summen, die Sammler dafür bieten, zwangsläufig auseinander…

Die “SCHÖNRAINER LIEDERHANDSCHRIFT” etwa, eine um 1330 in Hessen entstandene Textsammlung epischer und lyrischer Dichtung in mittelhochdeutscher Sprache mit deutlich “hessischem Einschlag”, wurde schon mit rund 350 000 Euro gehandelt. Das 21 Blatt starke Fragment enthält Teile aus dem Epos “Der Trojanerkrieg” sowie aus der Minnegesangssammlung “Wartburgkrieg,” dem berühmten Sängerwettstreit im 13. Jahrhundert. Fürst Wolfgang Ernst hatte die Liederhandschrift an das Hamburger Antiquariat Dr. Jörn Günther verkauft; das bot die Kostbarkeit auf Pergament der Landesbibliothek in Kassel an, die bereits zwei “Schönrainer” Blätter besitzt.

Fideikommiss-Gericht tagte Die Nordhessen freuten sich schon mächtig über die fantastische Bereicherung ihres Hauses, stellten 100 000 Euro bereit und sicherten sich darüber hinaus Zuschüsse der Hessischen Kulturstiftung über 70 000 Euro zu. Der Rest sollte durch Mäzene in der Region aufgebracht werden. Aber noch während der (letztlich vergeblichen) Suche nach Sponsoren kamen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verkaufes auf, wurde das für solche Streitigkeiten zuständige Fideikommis-Auflösungsgericht angerufen, ein Senat des Oberlandesgerichts Frankfurt mit Sitz in Kassel. Das Urteil: Die “Schönrainer Liederhandschrift” stammt nicht aus dem durch den Fideikommiss geschützten Archiv; der Fürst durfte sie demnach frei verkaufen. Allerdings wurde betont, dass ein Verkauf ins Ausland der nationalen Bedeutung wegen nicht erlaubt sei.
Das Gericht hatte sich bei seiner Entscheidung unter anderem darauf berufen, dass die einzelnen Blätter der Handschrift zu dem Zeitpunkt, als die Fideikommis-Auflösung (siehe unten) Rechtswirkung entfaltete, zur Fürstlichen Bibliothek gehörten; in Verkennung ihres Wertes waren die Blätter vor langer Zeit für Aktenumschläge und Deckelverstärker hergenommen worden – und so erst über einen Umweg in das (geschützte) Archiv geraten. Erst zwischen 1850 und 1980 wurde die Handschrift in ihren Originalzustand versetzt.
Als Beleg diente dem Gericht unter anderem eine überlieferte Beschreibung der “Büdinger Bruchstücke” von W. Crecelius um 1900, worin es unter anderem heißt: “Die Blätter der Handschrift dienten fast durchgängig zu Umschlägen um die Quartalsrechnungen des Amtes Schönrain, welches zu Ende des 16. Jahrhunderts in den Händen der Grafen zu Ysenburg war.” Während sich Fürst Ysenburg bestätigt sieht (“Ich durfte das verkaufen!”), stößt das Gerichtsurteil bei Historikern und Archivaren nach wie vor auf Unverständnis und Unmut.
Unabhängig vom Gerichtsentscheid bedauert Dr. Konrad Wiedemann, der Leiter der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Kassel, den (bislang) gescheiterten Erwerb der Liederhandschrift: “Denn wissenschaftlich betrachtet sind Teile der Liederhandschrift seltener als eine Gutenberg-Bibel.” Davon gebe es 48 Ausgaben, und schon ein Band koste zehn Millionen Euro. Einige Teile der Liederhandschrift dagegen seien einzigartig. Und wenn die Schönrainer Liederhandschrift erst einmal bei einem Sammler daheim im Tresor liege, komme man nicht mehr ohne weiteres dran, sei sie für die Forschung verloren.

Das Antiquariat Günther als Zwischenhändler sieht das anders: Auch wenn das Unternehmen einen Gewinn erzielen müsse, bleibe die historische Verantwortung nicht auf der Strecke. Eine “Basisdokumentation” sichere den geschichtlichen Wert. Anfragen von Historikern stehe man stets aufgeschlossen gegenüber, Einsicht werde gerne gewährt. Unserer Zeitung gegenüber gab sich das Antiquariat freilich sehr zurückhaltend, mochte keine Abbildungen der betreffenden Handschriften herausgeben, weil über das Thema zuletzt stets sehr “agitativ” berichtet worden sei.
Während die Schönrainer Liederhandschrift immer noch zu haben ist, hat die reichhaltig illustrierte und für Sammler offenbar sehr viel attraktivere “Passionsgeschichte des Johannes von Zazenhausen” vergleichsweise schnell den Besitzer gewechselt. Zuletzt hatte das Hamburger Antiquariat Günther dafür stolze 635 000 Euro verlangt. Der glückliche private Käufer nennt nun ein Pergament im Kalbsledereinband sein Eigen, das auf 72 Blättern reich verziert mit Miniaturen (Malereien) in Deckfarben mit Gold die Leidensgeschichte Christi darstellt.
In einer Beschreibung des Katalogs der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2003 heißt es dazu: “Die kostbar illuminierte Handschrift enthält ein Passionstraktat, das von dem Franziskanertheologen Johannes von Zazenhausen verfasst wurde. Aus dem schwäbischen Zazenhausen bei Stuttgart gebürtig, war Johannes offenbar Mitglied des Mainzer Franziskanerklosters St. Moritz, bevor er 1362 als Weihbischof nach Trier berufen wird, wo er auf Bitten des Mainzer Erzbischofs Gerlach von Nassau das Passionstraktat schreibt.” Aus dem Mainzer Kloster seien ansonsten nur fünf Handschriften erhalten, davon keine mit Buchmalerei.
Sammler zahlte 635 000 Euro Das von der Uni beschriebene Ausnahme-Stück gelangte einst als “Dedikations-exemplar”, als Geschenk an Ludwig von Ysenburg-Büdingen (geb. 1511) in das fürstliche Gesamtarchiv. Jetzt liegt es irgendwo bei einem unbekannten Sammler im Tresor. Geblieben sind nur Spuren im Günther´schen Antiquariatskatalog sowie im Internet, unter anderem eine historische (handschriftliche) Beschreibung des Zazenhausen-Werkes aus dem 20. Jahrhundert, einzusehen im digitalisierten Teil des Handschriftenarchivs der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg. Sie beschreibt das Passionstraktat eindeutig als Bestandteil des fürstlichen Archivs – und somit als geschütztes Kulturgut.